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Weshalb Liquid Democracy (LD)?

Meine ursprüngliche Überlegung zu LD ging auf die Kritik an dem SPD-internen Organisations- und Wahlsystem zurück.

Die Kritik an der Organisation richtete sich gegen das mehrstufigeFunktionärssystem: 
- Abteilung (Abteilungsvorstand), 
- Kreisdelegierten Kreisvorstand),
- Landesparteitagsdelegierte (Landesvorstand),
- Bundesparteitagsdelegierte (Bundesvorstand) usw.

Die Kritik am innerparteilichen Wahlsystem richtete sich auch gegen das Mehrheitswahlsystem auf allen Ebenen. Die Forderung der Kritiker nach Einführung des Verhältniswahlrechts (Listenwahl) blieb unbeachtet.

Als weiteres Problem stellte sich die finanzielle Zentralisierung heraus (95 % der Beiträge und Einnahmen gingen an die Zentrale). Die Basis war finanziell und damit auch politisch handlungsunfähig und damit zum Stillstand genötigt.


Alternative Vorschläge in der Berliner-SPD

Um alle Mitglieder an den Entscheidungen zu beteiligen, schlugen die Kritiker vor, ein elektronisches Abstimmungssystem zu entwickeln und einzuführen. Daraufhin stellte der damalige Berliner Landesvorstand der SPD 80.000 DM für die Erstellung eines Gutachtens zu Verfügung. Es sollte geprüft werden, ob die SPD überhaupt ein Abstimmungstool benötigte. Das Gutachten verneinte dies in seinem Ergebnis. Damit war keine Aussicht auf eine Veränderung gegeben. Das Geld war weg und alles blieb beim Alten.

Bei den Grünen war das Echo ebenfalls negativ.


Piraten

Die Vorstellung wurde dann bei den Piraten-Berlin eingebracht, 2006/7 noch eine überschaubare Gruppe von jungen und  computeraffinen Leuten. Sie - vom Formalfoo ohnehin genervt - griffen diese Ideen begeistert auf und beschlossen folgende Basics:

1. Kein Delegierten-System - alle Mitglieder dürfen abstimmen
2. Der Vorstand sollte nur die formalen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen (Verwaltungsvorstand)
3. Zulassung der Listenwahl zum Vorstand
4. Der größte Teil der finanziellen Mittel (80%) sollte bei der Basis verbleiben, dort, wo die eigentliche politische Arbeit stattfinden sollte. 
5. Die Entwicklung eines Abstimmungs- und Beteiligungstools


Weitere Entwicklung

Schnell setzte sich eine Gruppe von Programmierern und politisch Interessierten zusammen. Sie entwickelten das LQFB in OS-Lizenz, damals das erste Abstimmungstool. 
Aber schon bei der Einführung wurde von juristischen Bedenkenträgern durchgesetzt, dass Beschlüsse im LQFB nur empfehlenden Charakter haben, was die politische Wirkung von Beginn an entwertete. 

Darüber hinaus führte der Streit über die "Stimmen-Delegationen" zu einem weiteren Akzeptanzverlust. Dieser ist im Nachhinein auch verständlich, denn die Zulassung von "Stimmen-Delegationen" beruht, wie sich auch in der Anwendung herausstellte, offensichtlich auf einem grundsätzlichen Missverständnis, was mit "Liquid Demokratie" eigentlich erreicht werden sollte. Nach meinem Verständnis interpretierte man die "Aufgaben-Delegation" missverständlich als "Stimmen-Delegation", was eine gleichberechtigte Einflussnahme, wie sie LD beansprucht, eher behinderte.

Noch gravierender wirkte sich für aktive Mitglieder der unsichere Umstand aus, ihre Arbeit könne sich möglicherweise als vergebene Mühe herausstellen. Folge war, dass die Motivation zur freiwilligen Mitarbeit sukzessive zurückging, so dass sich die inhaltliche und verwaltungstechnische Arbeit zunehmend auf die wenigen Gewählten und Beauftragten konzentrierte. Durch die Abschaltung des LQFB und der SMV hat sich dieser "Nicht-mehr-mitmach-Prozess" weiter beschleunigt. 


Schlussfolgerungen

Will man eine politische Partei mit Hilfe einer LD-Software - aufbauen, unter Verzicht eines Funktionärsapparates wie ihn sich herkömmliche Parteien leisten, sollte die Software eine "Aufgaben-Delegation" und eine gleichberechtigte Stimmabgabe (keine "Stimmen-Delegationen") gewährleisten.


Wie hätte man sich das praktisch vorzustellen?

Ein Beispiel:
Angenommen, es soll ein Presseteam gebildet werden, so würde nach der aktuellen Situation der Vorstand eine "Beauftragung" vergeben. Die Mitglieder hätten außer auf der LMV im Moment keine Abstmmungsmöglichkeit. 

Angenommen, die LD-Software würde es ermöglichen per
"Aufgaben-Delegation" ein Presseteam zu beauftragen, dann wäre folgender Ablauf denkbar:

1. Antrag in dem/r LQFB/SMV zur Bildung eines Presseteams
2. Antrag wird angenommen
3. Eine oder mehrere Gruppen bewerben sich mit ihrem Presse-Konzept
4. Diskussion
5. Das Presseteam wird per Abstimmung (ohne "Stimmen-Delegationen") in dem/r LQFB/SMV bestätigt
6. Die Bestätigten nehmen die Aufgabe verbindlich an.
6. Das Presseteam kann als anerkanntes Piraten-Team nach innen und nach außen als Ansprechpartner wirken.

Diejenigen, die "Aufgaben" übernehmen, hätten eine direkte Verantwortung den Mitgliedern gegenüber (=> höhere Verbindlichkeit).
Die Mitglieder könnten direkt mit dem Team kommunizieren, mitarbeiten und bei Bedarf flexibel ihm zuarbeiten. Das Team könnte jederzeit per Abstimmung in der SMV Vorschläge, Anträge, Ergänzungen usw. erhalten.

Im Konfliktfall könnte die "Aufgabe" auch entzogen oder an ein anderes Team vergeben werden. Der Vorstand könnte in der Zwischenzeit relativ konfliktfrei seiner Arbeit nachgehen, während die Mitglieder die inhaltliche Gestaltung der Parteiarbeit mit Hilfe von "Aufgaben-Delegationen" und dem/r LQFB/SMV direkt, zeitnah und basisdemokratisch umsetzen könnten.

Liquide Demokratie sollte als die verbindliche "Delegation von
Aufgaben" auf Zeit verstanden werden, jederzeit von dem/r LQFB/SMV korregier- und erweiterbar wenn es die Aufgabe erfordert. Es geht also nicht um die "Vergabe von (digitalen) Posten", sondern um die Lösung von inhaltlichen Fragen und Aufgaben.

Eine "Stimmen-Delegation" ist bei einem solchen Verständnis von LD m.E. nicht hilfreich. Deshalb sollte bei einer neuen Konzipierung des LQFB/SMV-Systems, anstelle von einer "Stmmen-Delegation" über die Einführung einer "Aufgaben-Delegation" nachgedacht werden.